KÄNGURUMÜTTERFÜRSORGE (KÄNGURUMETHODE)

Ein Interview mit Dr. Nils Bergman von Marit Olanders



"Halte mich, Stille mich, Liebe mich"

"Die absolut beste Umgebung für ein Kleinkind, das wächst und gedeiht, ist der Körper der Mutter", sagt Dr. Nils Bergman, ein Arzt, der sich auf Kängurumütterfürsorge (Kängurumethode, Kängugu-Pflege) in Südafrika spezialisiert." Wenn das Baby Haut-zu-Haut auf die Brust der Mutter gesetzt wird, erhält es Wärme, Schutz und Nahrung, so dass sein Gehirn sich optimal entwickeln kann. Falls das Baby nicht oft genug gefüttert wird und nach der Fütterung zum Schlafen alleine gelassen wird, kann das zur Kolik führen," fügt er hinzu. "Die Haut der Mutter ist die natürliche Umgebung des Kleinkindes und sowohl physisch als auch emotional der gesündeste Platz."


Der Körper der Mutter ist die einzig natürliche und gesunde Umgebung für ein Neugeborenes

Nils Bergman sagt, er möchte das Stillen von Kleinkindern in einem grösseren Zusammenhang einordnen und seine Ausgangslage sei die biologische Perspektive. Das Verhalten des Kleinkindes wird von seinem Umfeld bestimmt, und das Umfeld, in das es gesetzt wird, bewirkt einen positiven oder negativen Einfluss. Die korrekte Umgebung für ein Baby ist jedoch der Körper der Mutter, und er betont, dass das Kleinkind total davon abhängig ist, die ganze Zeit in dieser optimalen Umgebung gehalten zu werden.

Verzweifelte Protestreaktion

Der Misserfolg in Kontakt mit der Mutterhaut zu sein, erklärt Bergman, ist nicht nur ein negatives Verhalten, sondern bewirkt auch einen pathophysiologischen Belastungszustand. Dies trifft nicht nur auf gesunde, vollentwickelte Kleinkinder zu, sondern auch auf jene, die zu früh geboren werden. Wie andere Säugetiere, die von ihrer natürlichen Umgebung entfernt werden, reagieren menschliche Kleinkinder mit Protest und Verzweiflung. In der Protestphase versucht das Kleinkind den Kontakt mit seinem optimalen Umfeld, nämlich der Mutter, normalerweise durch Weinen, intensiv wiederherzustellen.

Wenn das scheitert, wird das Kleinkind zu müde, um weiterhin noch zu weinen. Stattdessen verfällt es in einen Zustand der Verzweiflung, in den sich das Individuum zurückzieht, um Energie zu konservieren und sich aufs Überleben zu konzentrieren. Das Ergebnis ist eine niedrigere Körpertemperatur und Herzschlag, während gleichzeitig sehr erhöhte Werte der Belastungshormone zirkulieren, weil ein Baby, das von seiner Mutter getrennt ist, in der Tat gestresst ist. Wenn das Kleinkind zu seiner korrekten Umgebung zurückgeführt wird, nämlich in Haut-zu-Haut Kontakt auf der Brust der Mutter, dann normalisiert sich die Temperatur und der Herzrythmus.

Menschliche Kleinkinder werden biologisch äußerst unreif geboren. Nils Bergman weist darauf hin, dass die Gehirngröße des Neugeborenen nur 25% seiner endgültigen Größe ausmacht, verglichen mit 80% bei den Schimpansen und 45% bei den Antilopen. Erst nach einem Jahr erreicht das menschliche Gehirn 80% seiner endgültigen Größe. Verglichen mit anderen Säugetieren sollten wir eine Schwangerschaftsdauer von 21 Monaten haben. Der Grund, weshalb menschliche Babys so früh und so unreif geboren werden, rührt von der Tatsache her, dass die Weite des Geburtskanals durch das Becken der Mutter reduziert wurde als unsere Vorfahren anfingen, aufrecht zu gehen. Zum gleichen Zeitpunkt nahm das Gehirnvolumen zu. Die evolutionäre Lösung war, dass Kleinkinder früher ausgetragen werden und dadurch unreifer und ständig abhängig von elterlicher Fürsorge sind.

Trotz ihrer Unreife können menschliche Kleinkinder in ihrem optimalen Umfeld, der Haut-zu-Haut Kontakt mit der Brust der Mutter, für sich selber sorgen, sagt Nils Bergman. Er weist inter-alia auf die Forschung von Ann-Marie Widström et al hin, sowie die Befunde anderer Forscher, die zeigen, dass gesunde neugeborene Kleinkinder ohne irgendwelche Stimulation und Hilfe, zu der Mutterbrust kriechen, die Brustwarze finden, anfangen zu saugen und zu trinken, sobald sie auf die Mutter gesetzt werden.

Das richtige Umfeld bedeutet auch freies Stillen

Dr. Bergman sagt, dass Kleinkinder in Zyklen von 1 bis 1 ½-Stunden schlafen. Selbst wenn das Baby schläft, registriert das Gehirn, ob es sich in seiner richtigen Umgebung (Haut-zu-Haut mit seiner Mutter) befindet oder nicht. Natürlich kann man Kleinkindern beibringen, allein zu schlafen und das sogar für längere Zeiten, aber das ist ein gelerntes und nicht ein natürliches oder gesundes Verhalten.

"Koliken", so Nils Bergman," wird von zu viel Essen verursacht oder durch die Tatsache, dass der normale verdauungsfördernde Prozess im Neugeborenen dann aufhört, wenn es von der Mutter getrennt wird." Folglich wäre die natürliche Situation die, dass Kleinkinder ungefähr alle 90Minuten 30ml Milch konsumieren müssten, was dem Volumen des Ausscheidungsreflexes entsprechen würde. Von Mütterberatern hört man oft, dass während einer Ernährung mehrere Ausscheidungsreflexe stattfinden. Zufolge Bergman jedoch geschieht dies, weil das Baby nicht oft genug ernährt wird, und wenn es ernährt wird dann zu viel gegeben wird.

Am ersten Tag nach der Geburt kann der Magen des Neugeborenen nur 5ml Flüssigkeit aufnehmen. Wenn das Baby eine Woche alt ist, kann sein Magen 30ml halten. Wenn der Magen pro Ernährung mit mehr als 30ml Milch gefüllt wird, verläßt der Überfluss der Milch entweder als Stuhlgang den Körper oder das Baby erbricht die Milch. Wenn keine dieser beiden Möglichkeiten vorkommt, wird die überflüssige Milch im Magen gefangen und als Folge werden die Magenmuskeln gestreckt." Dies allein schon kann Koliken verursachen," erklärt Nils Bergman und demonstriert die Größe des winzigen Magens mit seinen Händen.

Wenn das Neugeborene nach der Ernährung von seiner Mutter wieder getrennt wird, nehmen die Belastungshormone zu wie auch dem zufolge die Verdauungsmengen, die dann eine Kolik verursachen können. Die gesunden Verdauungsfördernden Prozesse sind ganz von der Tatsache abhängig, dass das Baby nicht von seiner Mutter getrennt werden darf.

Die Entwicklung des Gehirns wird durch Hautkontakt gefördert und normalisiert

Nils Bergman weist darauf hin, dass rund um die Uhr der Kontakt von Haut-zu- Haut mit der Mutter, von ihr umsorgt und frei gestillt zu werden, der größte Vorteil des Kleinkindes für die Entwicklung des Gehirns ist. Ein Baby wird mit einer maximalen Anzahl von Synapsen (das heißt, potenzielle Verbindungen) zwischen den Nervenzellen geboren. Neurologische Pfade werden zwischen den benutzten Synapsen hergestellt. Die unbenutzten Synapsen sterben ab. Nach 6 Monaten sind die Gehirnzellen des Kleinkindes vollständig entwickelt. Danach werden die neuronalen Pfade gebildet, welche die wichtigen entscheidenden Faktoren der Lebensqualität ausmachen, die das Individuum erleben wird. Diese neuronalen Wege können Belastungs- oder Vergnügungspfade sein, ausgelöst durch das Umfeld, in dem das Baby untergebracht ist - sei es nun Nähe oder Distanz zur Mutter.

Wenn das Baby während der Kindheit die Belastungswege benutzen muss, werden die Vergnügungswege absterben. Die angetriebenen, neurologischen Belastungswege werden dann für den Rest des Lebens des Individuums dominieren. Wir reden über die Formbarkeit des Gehirnes und die Tatsache, dass das Gehirn verschiedene Verluste kompensieren kann, aber dies bezieht sich nicht auf die sehr früh und grundlegensten Nervenpfade, die im Gehirn permanent gefestigt werden.

Das Gehirn ist ein biosoziales Organ. In diesem Zusammenhang ist seine Funktion, Beziehungen zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Wenn ihm dies von Anfang an nicht ermöglicht wird, entsteht Dissoziation. Diese Dissoziation bewirkt eine mangelhafte geistige Gesundheit, welche die Fähigkeit des Individuums so beeinflusst, dass es in neuen Situationen nicht flexibel handeln kann, erklärt Nils Bergman.

In den ersten 8 Wochen im Leben ist Haut-zu-Haut Kontakt der wichtigste Stimulans für die Entwicklung des Gehirnes. Er sagt, dass dieser ununterbrochene physische Kontakt eine wesentliche Notwendigkeit ist, wenn die grundlegendsten Strukturen des Gehirnes auf eine gesunde Weise entwickelt werden sollen. Nach dieser Anforderung, sind die wichtigsten Anreize für eine normale Entwicklung des Gehirnes der Augenkontakt und das physische Bedürfnis, von den Eltern getragen zu werden. Manchmal müssen Babys durch schmerzhafte Erfahrungen oder stressige Situationen gehen. In solchen Zeiten ist es für das Baby noch wichtiger, mit der Haut der Mutter in Kontakt zu sein.

"Als meine eigenen Kinder klein waren und Mittelohrinfektionen hatten, schliefen sie am besten, wenn ich ihnen erlaubte, auf meiner Brust zu liegen. Ich bin überzeugt, dass das auf mehrere Weise gut für sie war," sagt Nils Bergman. "Was wir während der Geburt und in den folgenden Wochen erfahren, beeinflußt uns für den Rest unseres Lebens. Heutzutage ziehen wir Kinder auf eine Weise auf, die wesentlich pathologisch ist."

In westlichen Gesellschaften hört man oft den Rat, dass Kleinkinder auf den Boden gesetzt und gelegt werden sollten, um so ihre Muskeln zu entwickeln. Nils Bergman betont, dass, was im Allgemeinen gemacht wird, nicht notwendigerweise normal ist, oder genau das ist, was gemacht werden sollte." Ein Baby, das getragen wird, entwickelt sich auf eine sehr unterschiedliche Weise von dem Baby, das liegend zurückgelassen wird. Die physischen Unterschiede des Babys, das hingelegt wird, sind nicht von primärer Wichtigkeit, sagt er, es ist das Endresultat, die optimale Hirnentwicklung, die wichtig ist und die vom Herumgetragen werden resultiert.

Nils Bergman baut sein logisches Denken auf einer Arbeit von Allans Schore's Forschung im Infant Mental Health Journal, 2001 auf, und er vergleicht dies mit der Kunst, in der wir heute unsere Neugeborenen in der Neonatology pflegen. Er deutet an, dass praktisch wir alle, die wir im letzten Jahrzehnt in der westlichen Welt aufgewachsen sind, verhindert worden sind, unser volles Potenzial zu erreichen.

Nur im letzten Jahrhundert haben wir unser drei Millionen jähriges Muster, Kinder zu pflegen, verlassen. Wir haben das ununterbrochene Tragen des Kindes, das Mitschlafen mit den Eltern und das Stillen auf unmittelbare Forderung hin, damit ersetzt, dass wir das Kind alleine liegen lassen und ignorieren, wenn es weint, aber es dann alle vier Stunden mit Forma Milch füttern," fügt er hinzu.

Mütter brauchen Unterstützung

Mütter haben heute ihre Mutterinstinkte verloren, weil sie falsches Verhalten von ihren Müttern geerbt und gelernt haben. Sie brauchen Unterstützung, um diese Instinkte wieder zu entdecken und auszuleben, in einer Gesellschaft, die dies weder versteht noch das kulturelle Gedächtnis hat.

Die Eltern brauchen andauernde Unterstützung, um während der frühen Wochen ununterbrochenen Hautkontakt mit dem Baby zu pflegen, auch wenn dies bedeutet, dass der Vater oder jemand anderer für eine Weile die Aufgabe übernimmt, um diesen Kontakt herzustellen.

Nils Bergman schließt ein, dass die Mutter selbst während der Schwangerschaft Unterstützung braucht. Er betont die Wichtigkeit, die Hilfe eines Doula oder einer Mutterfigur während der Geburt in Anspruch zu nehmen sowie eine aktive Geburtserfahrung zu erleben, um optimale Ergebnisse für die Mutter und das Baby zu erzielen.

Übersetsung aus dem Englishen - Daniel Sidler

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The above is condensed from an article by Marit Olanders, published in Amningsnytt (Breastfeeding News) in Sweden, Dec. 2004.

Translation and editing - Åke and Pat Törngren

You can find out more about Nils Bergman's work at: Kangaroo Mother Care



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