Eine ungewöhnliche Heilungsgeschichte




von "Rüdiger"


Im folgenden Text schildere ich ich meinen ungewöhnlichen Heilungweg aus schweren chronischen Kopfschmerzen, Depressionen und verschiedenen neurotischen Symptomen mittels einer Art "Selbsttherapie", auf die ich zufällig stieß. Diese Selbsttherapie hat viele Gemeinsamkeiten mit Selbst-Primärtherapie, weshalb John so freundlich war, sie als Artikel zu publizieren.

Einige Daten zu mir: Ich komme aus Deutschland, bin Informatiker und 39 Jahre alt. Meine Krankheit begann in den achziger Jahren, steigerte sich bis 1990 zu chronischen Kopfschmerzen und führte Anfang 1996 in die Arbeitsunfähigkeit.




Mein Weg aus der Krankheit

Oktober 1997. Seit mehreren Jahren litt ich nun an schweren chronischen Kopf­schmerzen und hatte die ganze Palette klassischer und alternativer Thera­piemöglichkeiten ausgeschöpft. Die Suche nach weiteren Therapiemöglichkei­ten hatte ich auf­gegeben und lebte zurückgezogen in meiner kleinen Miet­wohnung. Die letzen schönen Tage des Jahres waren vergangen und es herrschte graues und trübes Wetter. Meine Stimmung war mit der Verschlechterung des Wetters geradezu dramatisch gesunken. In mir türmten sich gigantische Gewitterwolken aus undefinierbarem Hass und Ärger auf, die meinem Geist unerbittlich ihre düstere Stimmung aufzwangen. Es schien keinen Ausweg zu geben, keine Ablenkung konnte diesen Gefühlen etwas entgegensetzen. Oft wanderte ich wie ein Tiger im Käfig durch meine Wohnung und versuchte irgendwie den dunklen Gefühlen, den Schmerzen und der extremen inneren Unruhe zu entkommen. Ich fühlte mich wie "geladen" und unter enormer Spannung, hatte aber keine Ahnung woher die Spannung kam und wie ich sie loswerden konnte.

In diesen Tagen ereignete sich dann eines morgens folgendes: Ich war gerade dabei aufzuwachen und befand mich für einige Sekunden in einem sonderbar "halb bewussten" Zustand zwischen Schlaf und wach sein, als mir meine Schmerzen und meine Unruhe bewusst wurden. Ganz unwillkürlich und mit einem tiefen inneren Seufzer, stellte ich mir die Frage, "Mein Gott, warum geht es dir heute morgen schon wieder so schlecht". Unmittelbar nach dieser Frage geschah etwas sehr seltsames: Minutenlang tauchten Bilder und Ereignisse meiner jüngeren Vergangenheit aus der Tiefe meines Bewusstseins auf und zogen an meinem inneren Auge vorbei. Dabei befand ich mich die ganze Zeit in diesem "halb bewussten", meditativen Zustand, der die Sekunden zwischen dem Aufwachen und dem vollständig wach sein kennzeichnet. Fasziniert nahm ich die Bilder wahr und bemerkte dabei etwas, was mich ungemein überraschte: Jedes Bild und Ereignis war mit einem sehr schwachen Gefühl verbunden, das sich in meinem Gesicht ausdrückte, so dass mein Gesicht praktisch im Sekundentakt ganz leicht den Ausdruck wechselte.

Parallel zu dem was da geschah, hatte ich das eindeutige Gefühl, dass aus den Verspannungen in meiner Kopfmuskulatur sozusagen Verspannungsenergie "abfloss". Insbesondere am Ansatz der Augenringmuskulatur seitlich der Nasenflügel konnte ich dieses "abfließen" von Verspannungsenergie durch ein angenehmes leichtes Prickeln spüren. Mit jedem Gesichtsausdruck schienen sich dort winzigste Muskelfäserchen zu verspannen, um sich danach um so mehr zu entspannen.

Langsam ebbten die Bilder und Gefühle ab, ich wurde vollständig wach und war wie elektrisiert! Zum allerersten Mal seit dem Beginn meiner Krankheit, hatte ich etwas erlebt, was die Verspannungen ursächlich und unmittelbar zu verbessern schien, denn dieses Gefühl, dass Verspannungsenergie abfließt, beziehungsweise verschwindet, war klar und eindeutig.

Tagelang versuchte ich das Geschehene zu verstehen und natürlich auch zu wiederholen. Es war mir klar, dass drei Dinge zusammenkommen mussten: Zum einen musste ich versuchen, diesen seltsamen Strom von Erinnerungen und Gefühlen zu provozieren. Darüber hinaus sollte das in der meditativen Geisteshaltung geschehen, die dem Zustand kurz nach dem Aufwachen entspricht und drittens sollten sich die aufkommenden Gefühle frei im Gesicht ausdrücken können.

Ich setzte mich deshalb immer wieder in einen bequemen Sessel, schloss die Augen und versuchte mich wie an jenem Morgen zu fragen, warum es mir eigentlich so schlecht ging. Zunächst geschah nichts, außer, dass sich meine Verspannungen jedes mal bei dieser Frage zu verstärken schienen. Ich versuchte es weiter und irgendwann nach ca. einer Woche konnte ich das Ereignis wiederholen - ohne dass ich genau sagen könnte, warum es gerade in diesem Moment geschah.

In diesem Augenblick begann meine erste wirkliche Selbsttherapiesitzung. Stundenlang war ich Beobachter eines unglaublichen Vorganges:

Als ob ein Film ab lief, stieg ein intensives Gefühl nach dem anderen zusammen mit den dazugehörigen bildlichen Erinnerungen aus den Tiefen meines Bewusstsein auf, drückte sich auf meinem Gesicht aus, verschwand und machte dem nächsten Gefühl Platz. Als reiner, distanzierter Beobachter und paradoxerweise doch intensiv am Geschehen beteiligt, beobachtete ich wie ganze Erinnerungs- und Gefühlskaskaden stundenlang in unglaublicher Lebendigkeit und schwer beschreibbarer "Erlebnisqualität" an meinem inneren Auge vorbei zogen. Mir fehlen schlicht die Worte, meiner damaligen Verblüffung und meinem Erstaunen Ausdruck zu geben. Niemals zuvor hatte ich etwas derartiges erlebt. Nirgends hatte ich von der Möglichkeit eines solchen Vorgangs gehört. Der Zustand in dem ich mich befand, war wirklich einmalig. Man kann ihn nicht beschreiben, denn wenn man ihn in Worten ausdrückt, scheint er sich selbst zu widersprechen: Wie kann man distanzierter, unbeteiligter Beobachter sein und doch gleichzeitig intensiv am Geschehen beteiligt sein? Ich kann es wirklich nicht erklären, doch genau so empfand ich diesen Zustand.

Das allererste Gefühl das bei dieser ersten Selbsttherapiesitzung auftrat, war ein äußerst intensiver Selbsthass, begleitet von Erinnerungen an mein Verhalten in Situationen, die sich vor einigen Jahren abgespielt hatten. Parallel zum Erleben dieses Hasses verspannten sich zwei Gesichtsmuskeln ober- und unterhalb der Nasenwurzel, so dass ein intensiver Druckpunkt genau an der tiefsten Stelle der Nasenwurzel entstand. Die Erinnerungen an die Situationen, in denen dieses Gefühl damals tief in mir und ohne dass ich es bemerkte entstanden war, zogen an meinem geistigen Auge vorbei, um nach ca. 30 Minuten abrupt abzubrechen. Gleich darauf begann übergangslos das nächste Gefühle mit der zugehörigen Erinnerung aufzusteigen. Dieses dauerte nur noch etwas 10 Minuten an, das nächste ca. 5 Minuten, bis schließlich die meisten auftauchenden Gefühle ca. 2 bis 3 Minuten anhielten. Während des Vorgangs hatte ich ständig das ganz klare Gefühl, dass - noch viel stärker als beim ersten Mal - Verspannungsenergie aus meiner Kopf- und Gesichtsmuskulatur abfloss.

2 bis 3 Stunden vergingen auf diese Art und Weise, bis ich angesichts der Masse von hunderten Erinnerungen und Gefühlen voller Erschöpfung den Vorgang abbrach. Dies ging ganz leicht und ohne Probleme, indem ich einfach aus dem Sessel in dem ich saß aufstand und meine Aufmerksamkeit, weg von meinem Gesichtsausdruck und den inneren Bildern, meiner Umgebung zuwandte.

Schon dieses Erlebnis brachte so viel Erleichterung mit sich, dass ich von nun an 3 bis 6 Stunden täglich für meine Selbsttherapie reservierte, in denen ich jeweils hunderte Erinnerungen und intensivste Gefühle erlebte.

Anfangs benötigte ich manchmal 10 bis 15 Minuten bis der Prozess startete, nach einigen Wochen genügte es aber, mich nur kurz auf meine Gesichtsmuskulatur zu konzentrieren, um den Strom der Erinnerungen und Gefühle auszulösen. Die auftauchenden Erinnerungen wurden mit der Zeit immer älter, erst kamen sie aus den letzten Jahren, dann aus der Studienzeit, schließlich aus der Pubertät, der Jugend, der Kindheit und dann auch aus frühester Kindheit, was ich daran erkannte, dass sich erinnerungslos Ausdrücke in meinem Gesicht manifestierten, die eindeutig die eines Babys waren. Ich erlebte tausende von Situationen aus meinem Leben; Personen, Orte, Bilder über Bilder, Gefühle über Gefühle, ein endlos scheinender Strom aus detaillierten Erinnerungen. Jede visuelle Situation, die in der Vergangenheit durch Augen- und/oder Kopfbewegungen entstanden waren, zog an meinem inneren Auge vorbei.

Dabei erlebte ich praktisch das ganze Spektrum negativer und positiver menschlicher Gefühle, von denen ich zuvor so gut wie keine Ahnung gehabt hatte: Wut, mächtig wie ein Sturm, Zorn, glühend wie heißes Eisen, tiefste Schuld, Scham, kindliches Schmollen, brennenden Seelenschmerz, Todesangst, reine Bosheit, bestialische Mordlust, strahlende Liebe, Verzweiflung, abgrundtiefer Hass, Mitgefühl, Verständnis, Treue, Trauer, Demut, Verletzlichkeit, all das und noch viel mehr, in tausenden von Variationen; es fehlen mir wirklich jede Worte um auch nur ansatzweise verständlich zu machen, was in diesen ersten Monaten der Selbsttherapie geschah. Ich bin mir sicher - niemand hat je zuvor so etwas erlebt (und doch erlebt es jeder im Augenblick seines Todes). All das Erlebte floss einfach durch mich hindurch, drückte sich teilweise auf erschreckende Art in meinem Körper aus, verschwand, um dem nächsten Gefühl Platz zu machen.

Parallel zu diesem Prozess, verbesserten sich all meine Symptome, seine es Schmerzen, Gedankenkreisläufe, Depressionen, Wut- oder Zorneszustände oder Selbstverletzungsimpulse. Jedes so verarbeitete Gefühl schien im Hintergrund ein Symptom unterstützt zu haben, das mit dem Durchleben des Gefühls nachließ oder verschwand.


Die wichtigsten Erlebnisse, Auflösung der Hauptsymptome

Was ich in den Jahren der Selbsttherapie erlebt habe, kann ich unmöglich aufschreiben, es würde hunderte von Seiten füllen. Deswegen möchte ich nur die zentralen Erlebnisse schildern, die zu besonderen Einsichten und Symptomverbesserungen und schließlich zur Auflösung meiner Hauptsymptome führten:

In der ersten oder zweiten Woche der Selbsttherapie durchlebte ich ein Schlüsselerlebnis, das möglicherweise das zentrale Problem meiner Kindheit repräsentiert. Ich hatte den Eindruck, meine Mutter stirbt und ich müsse sie retten: Bei der Selbsttherapie spürte ich zunächst nur, dass heute eine besondere Blockade herrschte, denn ganz im Gegensatz zu den letzten Tagen, wollten einfach keine Gefühle auftauchten. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass ein ganz besonders intensives Erlebnis darauf wartete, wahrgenommen zu werden. Unruhig stand ich aus meinem Sessel auf, dachte nach, horchte in mich hinein, setzte mich wieder, bis ich schließlich wahrnehmen konnte, dass es irgendwie um meine Mutter ging. Wieder stand ich auf - inzwischen war es dunkel in meinem Zimmer geworden und die bedrückende Stimmung wurde immer stärker - und fragte mich, was denn mit meiner Mutter los war. Da tauchte unvermittelt der Gedanke auf, sie sei tot. Meine Mutter ist tot. Immer wieder der Gedanke, meine Mutter sei tot. Allerdings ging es offensichtlich nicht um den wirklichen Tod meiner Mutter im Jahre 1990, denn die Gefühle schienen viel viel älter zu sein. Wieder und wieder drängte sich mir der Gedanke auf, meine Mutter sei tot, bis ich schließlich weinend zusammen brach. Nie wieder während der Selbsttherapie waren die nun auftauchenden Erinnerungen so klar und farbig wie in diesem Moment:

Ich sah meine Mutter als junge Frau vor mir stehen und sich mit ihrer Mutter unterhalten. Wahrscheinlich lag ich im Kinderwagen, denn ich betrachtete sie aus einer liegenden Position heraus. Mit einem Mal veränderte sich meine Wahrnehmung und ich erkannte, warum ich meine Mutter für tot hielt. Ich "sah" mit einem Sinn, den ich nicht benennen kann, dass meine Mutter eine geradezu unglaubliche seelische Verletzung in sich trug. Gleichzeitig wurde ihr Körper durchsichtig und diese Verletzung zeigte sich mir in ihrem Körper ungefähr an der Stelle der Leber als ein faustgroßes Objekt, ebenfalls durchsichtig, dass von unglaublich vielen Energiebahnen durchzogen schien. Mit einer imaginären geistigen Hand griff ich nach diesem Objekt, nahm es aus ihrem Körper heraus und "baute" es in meinem Körper, an der Stelle des linken unteren Rippenbogens ein.

Dieses Erlebnis war das einzige während der ganzen Selbsttherapie, das, während ich es erlebte, in der Gegenwart ein weiteres Gefühl auslöste: Ich erschrak unglaublich über das was ich damals getan hatte. Mit dieser Aktion hatte ich praktisch meine Mutter gerettet oder befreit, gleichzeitig aber eine unglaubliche Last auf mich genommen. Die emotionale Sicherheit dessen war so stark, dass ich wirklich entsetzt war über mich und die Konsequenzen, die diese Aktion für mich unweigerlich haben musste. Diese Last war viel zu schwer, als das sie ein kleines Kind tragen konnte.

Seltsamerweise hatte ich genau an der Stelle, an der ich dieses Objekt "eingebaut" hatte, bis ungefähr zu meinem zwölften Lebensjahr eine deutliche körperliche Deformation. Mein linker Rippenbogen schien auf Höhe der Solar Plexus deutlich eingedrückt zu sein. Auch heute habe ich genau an dieser Stelle noch meine stärksten Verspannungen.

Was dieses Erlebnis zu bedeuten hat, kann ich nicht sagen. Ob es wirklich real war, oder eine Phantasie, die das Grundthema meiner Kindheit - den Versuch, meine Mutter zu retten - symbolisierte, ist mir nicht klar. Intuitiv erscheint mir das Erlebnis aber real und auf einer emotionalen Ebene kann man es sicher als real bezeichnen.

Nach diesem Ereignis tauchten bis auf wenige Ausnahmen immer nur ganz "normale" Gefühle auf, die nicht diesen fast schon visionären Charakter hatten - es zogen nun Tag für Tag wieder hunderte von Situationen und Gefühlen an meinem inneren Auge vorbei.

Alle erlebten Gefühle waren mit einer Art Befreiung verbunden, insbesondere galt dies für die Gefühle aus der Kindheit, die fast ausnahmslos Konfliktsituationen mit meinen Eltern widerspiegelten. Im Augenblick des Erlebens lösten sich diese Gefühle vollständig auf (unabhängig davon wie intensiv sie waren), so dass ich Situationen aus meiner Kindheit, die ich früher als sehr verletzend empfand, heute mit vollkommenen Gleichmut betrachten kann.

Mit dem vermehrten Auftauchen von ganz alten Erinnerungen wurden auch die zugehörigen Gefühle und die damit verbundenen Gesichtsausdrücke immer stärker. Nach ca. 3 Monaten verringerte ich die Dauer der Sitzungen auf ca. 2-3 Stunden täglich, da mit den starken Gesichtsausdrücken auch starke Verspannungen verbunden waren, die meine Schmerzen nach einiger Zeit zu stark werden ließen.

Mit der Zeit wuchs auch meine Sensibilität gegenüber den auftauchenden Gefühlsimpulsen, so dass sich die Gefühle immer öfter auch im ganzen Körper ausdrücken konnten. Zum Beispiel zogen sich meine Schultern zusammen, oder die Unterarme spannten sich an. Sehr oft bogen sich meine Füße nach unten, oder mein Brustkorb, mein Bizeps und die Rückenmuskulatur verspannten sich. Manchmal veränderte mein Körper auch ganz von selbst seine Position auf dem Bett und drehte sich automatisch in die Lage, in der sich die Gefühle am besten ausleben konnten. Und ab und zu verdrehten sich meine Arme, Beine und mein Kopf so seltsam, dass es ausgesehen haben muss, als ob ich mich in spastischen Zuckungen auf meinem Bett wand. Manchmal geschah es auch, dass ich Minuten brauchte, um herauszufinden, wie sich das gerade auftauchende Gefühl ausdrücken wollte. Erst wenn ich das geschafft hatte, konnte sich das Gefühl ausdrücken und erst dann verschwand es auch.

Ich bemerkte auch, dass meine Körperhaltung wichtig war. Je nachdem, ob ich im Sessel saß, auf dem Bett seitlich oder auf dem Rücken lag, tauchten andere Gefühle auf. Auch Alltagsereignisse beeinflussten die auftauchenden Gefühle: Ärgerte ich mich während des Tages über etwas, so tauchten abends während der Selbsttherapie oftmals ähnliche Gefühle aus ähnlichen Situationen der Vergangenheit auf. Ebenso hatte das gerade herrschende Wetter einen Einfluss auf die auftauchenden Gefühle. Bei schönem Wetter tauchten öfter Gefühle aus Situationen auf, die sich bei schönem Wetter abgespielt hatten und bei schlechtem Wetter verhielt es sich dementsprechend.

Je intensiver die Gefühle waren, um so intensiver wurden auch die damit verbundenen Augenbewegungen. Ich führte die Selbsttherapie immer mit geschlossenen Augen durch. Anfangs bewegten sich meine Augen kaum, oder besser gesagt, ich hatte noch nicht die nötige Sensibilität, die Impulse für die Augenbewegung wahrzunehmen. Mit dem Auftauchen stärkerer Gefühle bemerkte ich, dass sich meine Augen teilweise extrem in die Außenbereiche meines Gesichtsfeldes bewegen wollten. Erst als ich meinen Augen gestatten konnte, diesen Impulsen nachzugeben, war es mir möglich, die damit verbundenen Gefühle und Erinnerungen ganz wahrzunehmen.

Manchmal verspannten sich auch Muskeln, die sich normalerweise vollständig der bewussten Kontrolle entziehen. So vibrierten während der Selbsttherapie eine Zeit lang die Muskeln in meinem Bauch sehr stark. Richtige Wellen aus Verspannung und Entspannung schienen durch meine Eingeweide hindurch zu rollen. wei Wochen, in denen ich äußerst intensive Wut aus meiner Kindheit erlebte, vergingen so, mit dem Ergebnis, dass danach die ständigen Blähungen, die mich schon seit Jahren plagten, vollkommen verschwunden waren.

Oft geschah es in den Stunden nachdem sich so intensive Gefühle ausgelebt hatten, dass sich plötzlich in der Gegend der Solar Plexus eine Art "Gefühlsblase" bildete, an der Wirbelsäule aufstieg und in meinem Kopf mit unfassbarer Sanftheit platzte und reine, süße, zum dahin schmelzen verleitende Glücks- und Liebesgefühle freigab. Als ob das ganze Universum jede Zelle meines Körpers ganz leicht liebkoste. Nur in den ersten Monaten der Selbsttherapie geschah dies. Nie wieder danach habe ich etwas so schönes erlebt.

In den ersten drei Monaten stellten sich die größten Fortschritte ein. Zu Beginn der Selbsttherapie sah mein gesundheitlicher Zustand folgendermaßen aus:

  • Ich hatte das Gefühl, mein Kopf sei von dutzenden von Bändern umspannt, die den ganzen Schädel umschlingen und zusammendrücken. Die Verspannungen konzentrierten sich direkt hinter der Nasenwurzel zu einen äußerst unangenehmen Druckpunkt, der sich an der Gaumenoberseite in Form von zwei Verspannungsbändern bis zum Genick durchzog. Die Verspannung, die in diesen zwei Bändern herrschte kann ich wirklich nur mit dem Wort "brutal" - im Sinne des Wortes - beschreiben. Direkt von der Nasenwurzel zog sich noch eine Verspannung an der Unterseite des Schädels entlang, so dass ich permanent das Gefühl hatte, jemand drücke mir eine heiße Stricknadel durch die Nasenwurzel bis zum Genick. Es war mir vollkommen unverständlich, wie solche Verspannungen entstehen konnten, denn mit reiner Willenskraft wäre es mir unmöglich gewesen irgendeinen Muskel meines Körpers auch nur ansatzweise so stark anzuspannen.

  • In meiner Kiefermuskulatur waren einigen Muskelsträngen so stark unter Spannung, dass sie ständig einen hellen singenden Schmerz ausstrahlten.

  • Weitere Schmerzsymptome waren Magenschmerzen, Brustschmerzen und Gesichtsschmerzen. Die Brustschmerzen waren besonders stark. In den schlimmsten Zeiten fühlten sich an, als ob meine ganze linke Brustkorbhälfte einen hellen weißen Schmerz abstrahlt, so dass ich den Eindruck hatte, die Schmerzen sogar im Bereich von einigen Zentimetern außerhalb des Brustkorbes zu spüren.

  • Die Magenschmerzen waren dumpf und drückend permanent vorhanden und teilweise sehr unangenehm. Glücklicherweise verstärkten sie sich nur sehr selten zu Magenkrämpfen und Magenstechen. Bis Mitte 1999 konnte ich aufgrund der Magenschmerzen keinen Kaffee oder Tee trinken und nicht einmal eine halbe Zigarette rauchen. Die Gesichtsschmerzen waren tendenziell immer vorhanden, wurden aber erst bei Kälte richtig unangenehm.

  • In meinem Körper herrschte eine ständige Überspannung und Übererregung, so dass ich permanent das Gefühl hatte, "als ob an allen meinen Nerven ständig leicht gerieben wird", als ob alle meine Nerven ständig gereizt werden. Dieses Symptom ängstigte mich besonders, da es ganz langsam im Lauf der Monate stärker wurde und ich intuitiv spürte, dass dieses Gefühl mich eines Tages in den Wahnsinn treiben könnte, so unangenehm war es in seiner Qualität1.

  • Ich konnte nicht fernsehen, da mir allein die schnelle Bildabfolge der Werbung oder eines Filmes eine zu große nervliche Belastung darstellte. Das ist sicherlich schwer zu verstehen, nach einigen Minuten fernsehen musste ich aber wirklich abschalten, da ich aufgrund der Übererregung Angst bekam, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.

  • Ebenso war es mir nicht möglich, länger als vielleicht 2 oder 3 Minuten zu lesen. Danach sank meine Konzentrationsfähigkeit auf Null und ich konnte den Text einfach nicht mehr aufnehmen.

  • Ich war ständig erschöpft und konnte selbst die einfachsten Arbeiten nicht länger als eine Stunde durchführen. Danach musste ich mich erst einmal eine Stunde hinlegen, um wieder etwas unternehmen zu können.

  • Mein Herz schlug nicht wie sonst lautlos, sondern ständig hörbar. Zudem schlug es nicht vital und wie von selbst, sondern langsam, schwer und roboterhaft unlebendig. Mehrmals täglich überschlug es sich und schon bei kleineren körperlichen Anstrengungen schlug es rasend schnell.

  • Ich schlief schlecht und wachte jeden morgen erschöpft und kraftlos auf.

  • Ich litt permanent unter Gedankenkreisläufen und undefinierbaren Seelenqualen.

Nach drei Monaten Selbsttherapie hatte ich immer noch äußerst starke Verspannungen und Schmerzen, fühlte mich im Vergleich zu vorher aber geradezu wie im Paradies. Zuvor hatte ich beinahe das Gefühl gequält zu werden, nun fühlte ich mich "nur" noch stark belastet. Und ich konnte wieder lesen! Und zwar nicht nur Minuten, sondern Stunden. Fernsehen war auch wieder problemlos möglich, ebenfalls über Stunden hinweg, was ich nun ausgiebig zu nutzen begann. Außerdem hatte ich nun endlich wieder Hoffnung. Mir war zwar klar, dass ich Jahre benötigen würde um die Verspannungen ganz aufzulösen, aber was waren schon die paar Jahre im Vergleich zu der Aussicht, für den Rest des Lebens mit diesen Schmerzen geplagt zu werden.

Im weiteren Verlauf der Selbsttherapie löste sich von meinen Hauptsymptomen zuerst die ständige Nervenreizung auf: Irgendwann im Dezember ´97 saß ich auf meinem Sofa, als plötzlich eine intensive Erschöpfung in mir aufstieg. Ich legte mich aufs Sofa und gab mich dem Gefühl hin, wodurch innerhalb nur weniger Sekunden das Gefühl, dass meine Nerven ständig gereizt wurden, ganz verschwand. Es hört sich unglaublich an, aber mir wurde in diesem Augenblick klar, dass ich in all den Jahren mit Kopfschmerzen es geschafft hatte, das Gefühl der Erschöpfung vollkommen zu verdrängen. Indem ich dieses Gefühl nicht mehr wahrnehmen konnte war es meinem Körper nicht mehr möglich, sich so zu entspannen, wie es bei einer Erschöpfung normalerweise der Fall ist.

Aus diesem Grund konnte sich auch diese ständige Nervenreizung nicht auflösen. Sie war anscheinend die blockierte Entspannung aus all den vergangenen Jahren gewesen. Nahe liegender wäre eigentlich gewesen, dass die jahrelange blockierte Anspannung diese ständige Nervenreizung auslöst. Dem war aber nicht so, denn sonst hätte ich sehr lange gebraucht um die vielen Anspannungen zu verarbeiten. Ich hatte das Gefühl der Erschöpfung tatsächlich so lange und intensiv verdrängt, dass ich es nicht mehr fühlen konnte, wodurch meinem Körper keine intuitive Entspannung mehr möglich war. Denn der Körper reagiert auf das Gefühl der Erschöpfung mit Entspannung, kann aber nicht auf das intellektuelle Wissen um die Erschöpfung reagieren.

Bis zu diesem Augenblick war es mir nicht mehr möglich gewesen Erschöpfung zu fühlen, sondern nur Kraftlosigkeit. Ich hatte sogar vollkommen vergessen, was Erschöpfung bedeutete und erst als sie wieder aus dem Unterbewusstsein auftauchte konnte mein Körper wieder mit Entspannung reagieren. Zumindest soweit, wie es mit meinen noch vorhandenen Symptomen möglich war.

Es war inzwischen Januar 1998 geworden, ich war einigermaßen zuversichtlich, langsam gesund zu werden, als mir klar wurde welch unglaubliche Menge an unterdrückten Gefühlen sich in meinem Unterbewusstsein angesammelt hatte. Ich begann mich nun an Ereignisse aus meiner frühsten Kindheit zu erinnern, die bei mir zu einer extremen Abkapselung meiner Gefühlswelt geführt hatten. Aus dieser Abkapselung resultierte, dass ich seit meinem ersten oder zweiten Lebensjahr praktisch alle intensiven Gefühle abgewehrte und verdrängte. Die Erinnerungen aus dieser Zeit hatten allerdings eine ganz andere Qualität als Erinnerungen aus spätere Jahren. Ich erlebte nicht aufeinander abfolgende visuelle Bilder von bestimmten Ereignissen, sondern kaum in Worte zu fassende "Gefühlsbilder" die Raum und Zeit übergreifende emotionale Zusammenhänge aus den jeweiligen Abschnitten meines Lebens darstellten.

Mir wurde bewusst, dass ich eigentlich seit meiner frühesten Kindheit unglücklich war und dieses Unglück tagtäglich verdrängte hatte, wodurch sich Tag für Tag, Jahr für Jahr eine immer größer werdende Menge an unterdrückten Gefühlen in meinem Unterbewusstsein angesammelt hatte. Selbst wenn es mir gelingen sollte mit jedem Tag meines Lebens einen Tag meiner Vergangenheit zu verarbeiten, so würde das 35 Jahre Selbsttherapie bedeuten. Das waren nicht gerade rosige Aussichten. Aber was sollte ich tun. Die bisherigen Fortschritte waren so dramatisch, dass mich nichts daran hindern konnte einfach weiter zu machen.

Mein Zustand verbesserte sich zusehends und im Mai 1998 versuchte ich zum ersten Mal die Schmerzmittel abzusetzen, die mir im Sommer 1997 einer Schmerzambulanz verordnet hatte (75mg Saroten täglich, eigentlich ein Antidepressivum). Mit katastrophalem Ergebnis. Die Schmerzen wurden so schlimm und setzten mir so zu, dass ich nach 3 Tagen das Experiment abbrach und dann 2 Wochen benötigte, um mich von dem Stress zu erholen. Ich verließ in dieser Zeit kaum das Haus und verbrachte die meiste Zeit im Bett oder vor dem Fernseher. Trotz des Fehlschlages war ich nicht demotiviert. Ich wusste intuitiv, dass ich nicht mehr weit davon entfernt war die Schmerzmittel absetzen zu können. So verdoppelte ich für ca. 4 Wochen die Dauer meiner Selbsttherapiesitzungen und setzte die Medikamente dann innerhalb einer Woche ganz ab. Und es klappte! Die Schmerzen wurden kaum stärker. Ich war begeistert von meinen Fortschritten und sah mich schon wieder in meinem alten Beruf arbeiten.

In den nächsten Tagen testete ich meine Belastbarkeit, indem ich ein paar mal ins Kino ging und mich im Internetcafe an den Computer setzte. Das Ergebnis war durchwachsen. Ich konnte zwar einige Zeit am Computer sitzen und auch mal ausgehen, war aber schnell total erschöpft und die noch vorhandenen Symptome verleideten mir jegliche Aktivität nach kurzer Zeit. Schön war, dass ich nun ohne Schmerzmittel auskam, meine Belastbarkeit war aber immer noch miserabel.

Meine Hausärztin, die im Gegensatz zu anderen Ärzten noch an meine Heilung glaubte (oder meine Situation einfach nicht nachvollziehen konnte), fragte schon seit einiger Zeit, wann ich denn wieder arbeiten gehen würde. Glücklicherweise akzeptierte sie meine Erklärung, dass meine Schmerzen noch zu stark wären, betonte aber gleichzeitig, dass ich irgendwann einfach wieder arbeiten müsse.

Meinem erlernten Beruf nachzugehen, war noch unmöglich, das hatte ich ausprobiert. Einfache körperliche Arbeiten gingen gerade mal für ein paar Stunden, aber der leiseste Luftzug bereitete mir schon nach kurzer Zeit mörderische Kopfschmerzen. Ich musste also unbedingt einen Weg finden, noch länger krank geschrieben zu bleiben. In einer Vorahnung hatte ich schon Anfang des Jahres nochmals einen Kuraufenthalt in einer psychosomatischen Klinik beantragt. Ein Änderungsantrag zu einer anderen Klinik verzögerte die Genehmigung noch etwas, so dass ich die Kur erst im Sommer 1998 antreten konnte. Ein halbes Jahr hatte ich so Zeit gewonnen, als Grund für meinen weiteren Krankenstatus musste ich keine mühsame Überzeugungsarbeit leisten, sondern nannte den immer kurz bevorstehende Kuraufenthalt.

Die Kur selbst wurde allerdings zu einem großen Fehlschlag. Im Gegensatz zum ersten Kuraufenthalt war mein Unterbewusstsein nun aufgebrochen, ich konnte meine Gefühle wahrnehmen und ließ keinen der sich in der Klinik bietenden Konflikte aus. Zudem konnte ich natürlich mit den Gesprächstherapien nichts anfangen. Wozu um ein Gefühl herum reden, wo ich es doch mit der Selbsttherapie voll wahrnehmen, verstehen, durchdringen und restlos verarbeiten konnte.

Meine Zurückhaltung wurde natürlich als Unzugänglichkeit und Therapieverweigerung interpretiert, ich wurde mehr und mehr kritisiert und reagierte mit Trotz und Ablehnung. Tag für Tag wurden meine Symptome schlimmer, zusätzlich verbot man mir meine Selbsttherapie (woran ich mich im Glauben an den Sinn dieser Aktion auch noch hielt) und schließlich verließ ich die Klinik nach sechs Wochen mit viel schlimmeren Symptomen als zuvor: Meine Brustschmerzen waren strahlend hell und ich hatte permanent das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen.

Zudem hatte mich meine Therapeutin trotz aller Symptome gesund geschrieben, sogar für Vollzeitarbeit. Allerdings war ich an diesem falschen Gutachten zumindest zur Hälfte selbst schuld. Meine Therapeutin versuchte mich unter Druck zu setzen, indem sie mir androhte, mich gesund zu schreiben, wenn ich mich nicht mehr an den Gruppensitzungen beteilige und mehr "Gefühle zeige". Weil ich keinen Angriffspunkt bieten wollte, lachte ich sie aus und meinte ich hätte sowieso vor, nach dem Aufenthalt wieder arbeiten zu gehen. Dies geschah nach ca. 3 Wochen Klinikaufenthalt. Hätte ich gewusst, wie falsch ich mein Belastbarkeit einschätzte und wie sehr sich meine Symptome in den nächsten Wochen verschlimmern würden, dann hätte ich mich sicherlich etwas zurückgehalten mit dieser Aussage.

Nun gut, da man gegen ein Klinikgutachten im allgemeinen nicht krank geschrieben wird, was ich eigentlich nötig gehabt hätte, musste ich mich gleich nach Ende der Kur arbeitslos melden und mich schleunigst um Besserung bemühen.

Insbesondere die hellen, strahlenden Brustschmerzen belasteten mich so sehr, so dass ich sie nun gesondert zu bearbeiten begann. Anstatt mich wie bisher auf mein Gesicht zu konzentrieren, richtete ich meine Aufmerksamkeit während der Selbsttherapie nun auf meine linke Brustkorbhälfte. Ohne jede bildliche Erinnerung stiegen so ungefähr 6 Wochen lang intensive, kleinkindliche seelische Schmerzen auf, die sich durch die Konflikte während des Klinikaufenthaltes aus dem Unterbewusstsein gelöst hatten. Die Gefühle drückten sich durch Verkrampfungen im Brustkorb und - wie könnte es anders sein - auch durch intensivste Gesichtsausdrücke aus. Schließlich verschwanden die strahlenden Schmerzen auf diese Weise und auch die ständige Übelkeit löste sich in dieser Zeit auf.

Interessant an finde ich in diesem Zusammenhang, dass es anscheinend nicht notwendig ist die Ursache eines Gefühls zu kennen, oder damit verbundene Erinnerungen zu erleben, um das Gefühl zu verarbeiten, denn all diese Gefühle erlebte ich ohne zugehörige Erinnerungen.

Die nächsten Wochen fuhr ich einfach stur weiter mit der Selbsttherapie fort, täglich ergaben sich Fortschritte, so dass ich mich im Oktober 1998 entschloss, eine Halbtagsstelle in meinem erlernten Beruf anzunehmen. Aber auch dieses mal hatte ich mich überschätzt, denn die Arbeit (Bildschirmarbeit) war zunächst eine Qual für mich. Pünktlich nach 4 Stunden lies ich jeden Tag den Stift fallen und ging nach Hause um mich erstmal 2 Stunden im Bett auszuruhen. Doch ich hielt durch und im Laufe der Monate wurde die Situation schließlich erträglich.

Mit dem Abklingen der hellen Brustschmerzen drang ein anderes Symptom immer mehr in mein Bewusstsein: Oft hatte ich das klare Gefühl, dass sich eine gigantisches Verspannungsband in der linken Körperhälfte vom Kopf durch den Hals, die Schulter, Rippen, Magen, Darm und Hüfte durch das ganze Bein hindurch bis in die Zehen erstreckte. Nun begann ich diese Verspannung gesondert zu bearbeiten, indem ich mich während der Selbsttherapie auf die linke Körperhälfte legte. Durch diese Körperhaltung blickten meine Augen leicht nach links, was die Verspannungen in der linken Körperhälfte bewusster machte.

Die Verspannungsimpulse, die nun auftauchten waren nicht mehr mit bildlichen Erinnerungen verbunden und zum ersten und letzten mal während der Selbsttherapie auch nicht durch Gefühle begleitet. Sie erschienen mir im Vergleich zu den bisher auftauchenden Impulsen emotional gesehen seltsam "leer" zu sein. Gleichzeitig waren sie aber so intensiv, dass sich meine gesamte linke Körperhälfte innerhalb von ca. 30 Minuten langsam vom Kopf bis zu den Zehenspitzen hart wie Stein verkrampfte. Mein Körper krümmte sich dabei immer mehr wie ein gespannter Bogen und mein Gesicht verzerrte sich wie unter extremen Schmerzen. Schwer atmend lag ich dann so da, immer wieder gingen Wellen von Verkrampfungen durch meinen Körper, wobei sich mein Kopf besonders stark nach hinten bog und mein Gesicht zu regelrechten Schmerzfratzen verzerrte. Monatelang ging das so Tag für Tag ca. 60 Minuten (länger war zu anstrengend), wobei die Verspannung die sich durch meine linke Körperhälfte zog immer mehr abnahm. Ganz aufgelöst hat sie sich aber nicht und auch heute erlebe ich noch alle paar Tage bei der Selbsttherapie Verspannung im selben Bereich der linken Hüfte und linken unteren Brusthälfte.

Woher diese extremen Verspannungsimpulse kamen und was sie bedeuteten ist mir bis heute ein Rätsel. Da sie aber keine Gefühle mit sich trugen und ich den Eindruck hatte, als ob sich mein Körper unter extremen Schmerzen krümmte, könnte ich mir vorstellen, dass diese Impulse unausgelebte körperliche Reaktionen auf sehr starke körperliche Schmerzen waren. Aus Erzählungen meiner Eltern weiß ich, dass ich als viermonatiges Baby schwer erkrankte wahrscheinlich eine starke Darminfektion), mehrere Tage im Koma lag, viele Spritzen bekam und mein Rückenmark punktiert wurde. Nach meiner Genesung sagte der Kinderarzt zu meinen Eltern, dass er nicht an mein Überleben geglaubt hatte. Wer weiß, vielleicht hatte ich verschüttete Erinnerungen aus diese Zeit erlebt.

Im Sommer ´99 hatte ich inzwischen alle wichtigen Phasen meines Lebens wieder erlebt. Alle Liebesbeziehungen, wobei ich bis dato teilweise gar nicht wusste dass ich die Freundin wirklich geliebt hatte. Alle engeren freundschaftlichen Beziehungen, die Tode meiner Großeltern und meiner Mutter, meine Studien-, Bundeswehr- und Gymnasialzeit und meine ersten sechs Lebensjahre - nur aus der Grundschulzeit tauchten kaum Gefühle auf. Auch ca. fünfzig bis hundert besonders wichtige Träume passierten in dieser Zeit noch einmal mein Bewusstsein.

Damals war ich überzeugt, in ein bis zwei Jahren gesund zu werden, schließlich hatte ich ja mein ganzes Leben wieder erlebt, viel konnte also nicht mehr kommen - dachte ich. Doch nun begannen sich die auftauchenden Gefühle langsam zu verändern. Mein Unterbewusstsein gab eine andere Klasse von Gefühlen frei, die, wie sich herausstellen sollte, den Großteil meiner Erkrankung ausmachten. Bisher erinnerte ich mich meist an ganz konkrete Situationen und Ereignisse, an denen grundsätzlich Personen aus meinem Familien- oder Bekanntenkreis beteiligt waren. Nun tauchten immer und immer wieder nur Bilder meiner Heimatstadt, meines Schulweges, unserer Wohnung u.s.w auf, ohne dass irgendwelche Personen mit beteiligt waren. Alle Szenen waren von einer tiefen Unzufriedenheit und Einsamkeit begleitet, die ich wie gehabt aufsteigen und sich ausdrücken ließ. Tausende mal sah ich unser Wohnhaus aus allen möglichen Perspektiven, tausende mal den Garten um das Haus und die nähere Umgebung. Tausend mal ging ich meinen Schulweg entlang und erlebte die Gefühle, die damals in mir entstanden, aber nicht ins Bewusstsein treten konnten. Währen dieser Phase ging endlich die ständige Übererregung in meinem Körper so weit zurück, dass ich wieder Kaffee trinken und auch mal wieder eine Zigarette rauchen konnte.

Langsam wurde mir auch klar, was der Grund für all diese Unzufriedenheit und Einsamkeit war. Sie rührten auch von der schon weiter oben beschriebenen seelischen Abkapselung her, die in meinen ersten Lebensjahren stattgefunden hatte. Durch diese Abkapselung war praktisch ständig mein Bedürfnis nach menschlicher Nähe unbefriedigt und in fast jedem Augenblick (!) meines Lebens entstand dadurch eine Unzufriedenheit die ich unterdrückte und die sich dadurch - Gefühl für Gefühl - zu einer riesigen Menge an Unzufriedenheit ansammelte. Selbst wirklich schöne Erlebnis wie die Unbeschwertheit eines warmen Sommertages erzeugten permanent Ablehnungs- und Unzufriedenheitsimpulse. Ich brauchte nicht die Wärme eines Sommertages, sagten mir diese Gefühle, sondern menschliche Wärme.

Nun begannen sich all diese Unzufriedenheiten auszudrücken und erst im Herbst 2000 war die Phase vorüber, in der ich fast ausschließlich Bilder meiner Heimatstadt erlebte. Seither erlebe ich täglich eine Mischung von Gefühlen und Erinnerungen, die aus den unterschiedlichsten Phasen meines Lebens stammen, jedoch zu ungefähr achtzig Prozent ebenfalls aus Bildern meiner Heimatstadt mit den zugehörigen Unzufriedenheitsimpulsen bestehen.

Damit klar wird, wie drastisch sich meine Symptome durch die Selbsttherapie bis zum Herbst 2000 verbessert haben, hier nochmal zu den wichtigsten Punkten der Symptombeschreibung von Seite 12 ein Beschreibung der Symptome, wie sie sich jetzt noch äußern.

  • Die Bänder, die meinen Kopf umspannten, sind vollkommen verschwunden. Auch der äußerst unangenehme Druckpunkt hinter der Nasenwurzel und auch die zwei Verspannungsbänder, die sich an der Gaumenoberseite entlang zogen, sind vollkommen verschwunden. Übrig geblieben sind Schmerz- bzw. Druckempfindungen im Kopf und im Nacken, die bei psychischer Belastung zu stärkeren Kopfschmerzen werden.

  • Die hellen Brustschmerzen sind ebenfalls vollkommen verschwunden, ebenso die Bauchschmerzen. Anstelle dessen befinden sich ebenfalls Schmerz bzw. Druckempfindungen, die bei Belastung, wie die Druckempfindungen im Kopf, zu stärkeren Schmerzen werden.

  • Die extreme Übererregung im Körper und das Gefühl, dass ständig alle Nerven meines Körpers gereizt werden, ist vollkommen verschwunden.

  • Fernsehen, lesen, am Computer arbeiten; all dies ist wieder möglich.

  • Die ständige Erschöpfung ist vollkommen verschwunden. Geblieben ist eine verminderte Belastbarkeit, so dass ich im Moment nur ca. 25 Stunden pro Woche arbeiten kann.

  • Mein Herz schlägt wieder ganz normal und für mich nicht mehr hörbar. Auch die zusätzlichen Schläge und die hohe Frequenz bei kleinen Anstrengungen sind verschwunden.

  • Die ständigen Gedankenkreisläufe und Seelenqualen sind vollkommen verschwunden.

Im Mai 2001 ereignete sich dann noch etwas völlig unerwartetes. Eines Abend bemerkte ich bei der Selbsttherapie, dass sich ein auftauchendes Gefühl auch mit einer besonders heftigen Kopfdrehung ausleben wollte. Ich ließ die Bewegung zu und ab diesem Zeitpunkt konnte ich spüren, dass die allermeisten Gefühle mit verschiedenen Kopfbewegungen verbunden waren. Dadurch dass ich diesen nun nachgeben konnte, bekam ich noch besseren Kontakt zu den Gefühlen wodurch diese noch schneller an mir vorbeizogen. Außerdem konnte ich nun auch Gefühle sich ausleben lassen, die mit einem starken zur Seite drehen und oft auch Einziehen des Kopfes verbunden waren, wodurch sich im Laufe der Zeit die Verspannungen in meiner Schultermuskulatur deutlich verbesserten.

Anfang Juni 2001 verschwanden die noch verbliebenen Kopfschmerzen. Eigentlich hätte ich darüber glücklich sein sollen, doch wie immer wenn starke Symptome verschwanden, nahm ich die verbliebenen deutlicher wahr. Diesmal waren es die vielen unangenehmen Druckempfindungen, die noch in meinem Körper herrschten. Meine linke Fessel und die linke Wade waren noch stark verspannt. Der ganze Brustkorb fühlte sich wie eingespannt an, insbesondere am unteren Rippenbogen. Auf meinen Schultern drückte eine Dauerlast, in meinem Rücken schien ein Brett eingebaut zu sein und in meinem Kopf herrschte noch ein ständiges, recht unangenehmes Druckgefühl. Und am unteren linken Rippenbogen sowie im Herzbereich hatte ich häufig noch sehr störende Schmerzen.

Gerne hätte ich an diese Stelle geschrieben "Am soundsovielten des Jahres zweitausendundx war es soweit. Die letzten unterdrückten Gefühle tauchten auf, drückten sich aus und von da an hatte ich keine Symptome mehr. Aber so weit bin ich leider noch lange nicht. Würde meine emotionale Erkrankung nur aus "normalen" unterdrückten Gefühlen bestehen, so wäre ich inzwischen weitestgehend geheilt. Doch aufgrund der vielen einzelnen, fast sekündlich entstandenen Gefühlsimpulse, die noch auf Verarbeitung warten, werde ich sicher noch einige Jahre Selbsttherapie benötigen, um die restlichen Symptome aufzulösen.

Die Bilanz meiner Selbsttherapie bis zu heutigen Zeitpunkt hat eine positive und eine negative Seite. Die positive ist, dass es mir trotz der in Kapitel 3 meines Haupttextes geschilderten Rückschläge relativ gut geht, dass ich arbeite, schon seit Jahren keine Medikamente mehr nehme und mich aus einem Zustand, der nach Meinung meiner Ärzte normalerweise in die Frühverrentung geführt hätte, selbst wieder heraus gearbeitet habe - und das, obwohl ich als nicht mehr therapierbar galt. Doch diese Fortschritte habe ich nicht geschenkt bekommen. Ca. 40 Monate Selbsttherapie - insgesamt ungefähr 2500 Stunden waren bis zur Auflösung der Hauptsymptome, meiner Kopfschmerzen, notwendig.

Davon habe ich ungefähr einhundertfünfzig Stunden nur geweint. Einige hundert Stunden erlebte ich nur intensive seelische Verletzungen aus meinen ca. ersten sechs Lebensjahren. Ca. dreihundert Stunden hatten sich sehr starke Verspannungsimpulse in der linken Brusthälfte ausgelebt, weitere tausend Stunden erlebte ich Szenen aus meiner Heimatstadt ohne Beteiligung anderer Personen. Die restlichen ca. achthundert Stunden bestand aus den unterschiedlichste Gefühlen und Erinnerungen aus verschiedensten Phasen meines Lebens. Jedes einzelne Gefühl war eindeutig einer konkreten Lebenssituation oder -phase zuzuordnen. Jedes einzelne Gefühl musste ich durchleben, ansonsten wäre es im Unterbewusstsein verblieben und hätte weiter seinen negativen Einfluss ausgeübt.

Manchmal habe ich fast jede halbe Sekunde ein neues Gefühl mit der zugehörigen Erinnerung erlebt, manchmal tagelang nur ein einziges Gefühl. Wie viele Gefühle und konkrete (!) Situationen es insgesamt waren kann ich nur abschätzen - einige Millionen sind es bestimmt gewesen. In den ersten zwei Jahren der Selbsttherapie dauerten die einzelnen Gefühle ca. 2 - 20 Minuten an, danach erlebte ich hauptsächlich das was ich "Sekundengefühle" nenne - einzelne Gefühlsimpulse, die vor allem in meiner Pubertät praktisch nach jeder Augenbewegung durch die emotionale Bewertung der neu entstandenen visuellen Situation erzeugt wurden.

All diese Gefühle waren mit einem oder mehreren körperlichen Verspannungsimpulsen verbunden, die sich im Bewusstseinszustand der Selbsttherapie vollständig ausdrücken konnte und damit verschwanden. Die Ursache meine Schmerzen war nur die aufsummierte Spannung unzähliger einzelner Verspannungsimpulse. Meine Depressionen waren nur die aufsummierten Last der unterdrückten Gefühle. Meine Neurosen nur die umgewandelten Kräfte dieser Gefühle.

Wahrscheinlich wirkt mein Bericht etwas ernüchternd, da er ja aufzeigt, welch unglaubliche Mengen an unterdrückten Gefühlen eine emotionale Erkrankung ausmachen kann und wie viel Arbeit bis zur Heilung notwendig ist. Trotzdem ist er eine positive Nachricht, denn meine Symptome wären mit einer normalen Psychotherapie nicht mehr heilbar gewesen und hätten mich für den Rest meines Lebens begleitet. Außerdem bedeutet die Möglichkeit, solch große Mengen an unterdrückten Gefühlen in nur 3 ½ Jahren zu verarbeiten, dass andere neurotische oder psychosomatische Erkrankungen mit Selbsttherapie möglicherweise in viel kürzerer Zeit geheilt werden können.

Denn wenn ich mir all die Menschen mit psychosomatischen und emotionalen Erkrankungen in Erinnerung rufe, die ich im Laufe der Jahre kennen gelernt habe, so glaube ich sagen zu können, dass nur wenige eine so große Menge an unterdrückten Gefühlen in sich trugen, wie ich. Außerdem ist in vielen Fällen nicht die Masse an unterdrückten Gefühlen krankheitsauslösend, sondern der Einfluss der stärksten unterdrückten Gefühle. Diese Spitze des Eisberges zu verarbeiten, benötigt mit der Selbsttherapie relativ wenig Zeit. Denken Sie nur an den den positive Effekt, den die weiter oben beschriebene wieder erlebte Erschöpfung hatte.

Damit keine Missverständnisse entstehen, möchte ich am Ende dieses Kapitels noch einmal wiederholen, was ich schon weiter oben zum Ausdruck gebracht habe: Bei all den beschriebenen Erlebnissen tat ich schlicht und einfach gar nichts. Ich war reiner Beobachter und ließ alles geschehen, ohne Einfluss darauf zu nehmen. Denn wenn man absolut nichts tut und damit frei von jeder willentlichen Aktivität ist, kann man seine Gefühle weder verdrängen, noch sie in irgendeine Form, sei es Gestik, Sprache oder anderes, ausleben. Man kann sie nur noch wahrnehmen und sich selbst ausdrücken lassen, wodurch sie verarbeitet werden und sich auflösen.

Nur um den Strom an Erinnerungen und Gefühlen auszulösen, war kurzfristig eine gewisse Aktivität notwendig. Nichts von all dem was dann passierte, hatte irgendwie mit einer willentlichen Aktivität zu tun. Hätte ich versucht, irgend etwas willentlich zu tun, so wäre kein Gefühls- und Erinnerungsstrom aufgetaucht, die unterdrückten Gefühle wären im Unterbewusstsein verblieben und ich würde auch heute noch an den gleichen Depressionen und psychosomatischen Symptomen leiden, wie zu Beginn meiner Krankheit; oder hätte ich inzwischen vom Neurotiker zum Psychotiker entwickelt.

Und so seltsam und ungewöhnlich sich auch manches Selbsttherapieerlebnis anhört und so intensiv die auftauchenden Gefühle auch waren: Durch den besonderen Bewusstseinszustand der Selbsttherapie war ich den auftauchenden Gefühlen niemals ausgeliefert und alles was geschah, hätte (und habe) ich ohne Schwierigkeiten innerhalb von Sekundenbruchteilen abbrechen können. Wenn man gelernt hat, unterdrückte Energien ohne den Einfluss des Alltagsbewusstseins sich ausleben zu lassen, dann geschehen einfach Dinge wie ich sie erlebt habe - und würden in ähnlicher Weise bei jedem Menschen so geschehen. Ganz egal, ob er an einer emotionalen Erkrankung leidet, oder ein glücklicher und ausgeglichener Mensch ist - niemand ist vollständig frei von unterdrückten Energien/Gefühlen.

Allerdings hat kaum jemand mit solch einem umfangreichen Aufarbeitungsprozess zu rechnen wie ich - auch wenn er an einer schweren emotionalen Krankheit leidet. Ich habe aus Gründen, über die ich nicht gerne spreche, im Laufe meines Lebens außergewöhnlich viele Gefühle verdrängt.


Stand: Juli 2001

P.S.: Inzwischen, Februar 2003, sind auch die restlichen Brustschmerzen und die starken Druckgefühle verschwunden, so dass ich normalerweise frei von Schmerzen bin. Verblieben sind noch mäßige Druckgefühle in Brust- und Kopf, depressive Verstimmungen, sowie verminderte Belastbarkeit, weshalb ich weiterhin nur halbtags arbeite (mit nur 3 Krankheitstagen in 4 Jahren !).
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1In seiner Qualität vielleicht vergleichbar mit dem unangenehmen Geräusch, das Kreide auf einer Tafel verursachen kann, das ganze aber im Körper.


Auf meiner Homepage gibt es noch weitere Texte, in denen ich die Hintergründe meiner Erlebnisse zu erläutern versuche.
- "Rüdiger"


EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.

-- Sieglinde W. Alexander



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