Der "Innere Heiler": Der allen Menschen eigene natürliche Impuls zu Ganzwerdung


Von Pat Törngren


Das Vermögen des Körpers zur Selbstheilung ist überlebensentscheidend für den Einzelnen ebenso wie für die Gattung. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Psyche auf ganz ähnliche Prinzipien beruht und aus den gleichen Gründen.


Die meisten heute lebenden Menschen sind in ihrer Kindheit und Jugend auf die eine oder andere Weise emotional verletzt worden. Viele von uns möchten davon geheilt werden. Welche Chance haben wir aber? Sind wir etwa zeitlebens gefangen von der in unseren Körper eingeschriebenen Abwehr, oder ist da nicht ein innerer Drang zur Ganzwerdung und Heilung? Zeigt sich das nicht spontan in Körper und Seele, wenn uns nur die richtigen Rahmenbedingungen geboten werden? Ich jedenfalls glaube fest daran. Ich bezeichne diesen Drang gerne als meinen "Inneren Heiler". Ich weiss und verstehe, dass tief im Innersten nicht nur unser Körper, sondern auch unsere Psyche einen solchen "Heiler" besitzt.

Wovon ich ausgehe ist meine eigene Erfahrung, dass wenn der Körper verletzt wird, er immer von alleine einen Heilungsprozess einleitet, ohne dass wir ihn dazu erst auffordern müssen. Wenn wir uns mal geschnitten haben, treten sofort spezielle Abwehrzellen auf, um einer möglichen Infektion vorzubeugen. Auch dickt sich dort das Blut ein, so dass wir nicht verbluten. Es bildet sich Schorf, in dessen Schutz spontan wieder gesundes Gewebe entsteht. Für mich sieht es so aus, dass unser Geist- und Seelenleben ganz ähnlich funktioniert. Die jüngsten Ergebnisse der modernen Gehirnforschung bestätigen das schon.

Ich bin überzeugt, dass unsere Seele ebenso auf Selbstheilung programmiert ist. Zum Beispiel, wenn wir in unserer frühen Kindheit, einen überwältigenden Schmerz erleben, wird zunächst die Erinnerung daran, zusammen mit den nicht erfüllten Bedürfnissen, im Gehirn "unterdrückt", oder besser gesagt, "überbrückt", um uns vor Schmerzüberflutung und tatsächlichem Sterben zu bewahren. Das gilt besonders bei sehr frühen Traumata, wie beispielsweise von einer schweren Geburt oder die Trennung von der Mutter nach der Geburt, chirurgische Eingriffe, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung oder Wutausbrüche der Eltern. In Wirklichkeit gilt das für alle Formen körperlichen oder emotionalen Schmerzes, der zu überwältigend ist für das kleine Kind und im Augenblick des Erlebens einfach nicht verarbeitet werden kann.

Wenn dann diese erste Gefahr vorüber ist, versucht unsere Geist-Seele das Ereignis wieder und wieder "herauf -" und "ins Bewusstsein" zu bringen, um es endlich zu heilen. Das passiert auf vielfältige Weise und meist ganz spontan. Es bräuchte der Erwachsene keine Therapie, wenn es ihm als Kind schon erlaubt worden wäre, diesen natürlichen Prozess ablaufen zu lassen. Ich denke hier an meine eigenen Erfahrungen. Hätte ich als Baby meinen eigenen Geburtsschmerz spontan ausdrücken können und hätte meine Mutter dabei nichts anderes getan, als mich liebevoll im Arm zu halten, wäre ich schon damals gleich davon geheilt worden. William Emerson macht diese Arbeit mit Säuglingen und hilft ihnen auf diese Weise, ihre eigene Geburt in den allerersten Wochen ihres Lebens zu verarbeiten. Es braucht im Grunde keinen Spezialisten dafür - die Eltern können das ebenso so gut, wenn sie die richtige Anleitung haben. Das Problem bei mir war nur, dass mir schon als Baby gefühlsmäßig klar war, dass wenn mein "Innerer Heiler" sich melden wollte und ich schreien müsste, meine Mutter ängstlich gereitzt und nervös reagierte. Darum versuchte ich in der Folge niemals zu schreien und laut zu werden, um ja endlich die Liebe meiner Mutter zu gewinnen, auch wenn ich genau das Gegenteil gebraucht hätte.

Leider birgt es verständlicherweise eine Gefahr in sich, wenn man versucht, den Eltern die Bedeutung dieses "therapeutischen Schreiens und Weinens" zu vermitteln. Es wird so oft in der Weise missverstanden, als sagte man: "Lass es doch einfach schreien". Das ist aber gar nicht so gemeint. Wenn ein Baby schreit, sollte man immer gleich hingehen und es aufnehmen. Sein Schreien ist ja das einzige Mittel des Kindes auszudrücken, dass es etwas braucht. Es ist vielleicht hungrig oder hat Schmerzen, vielleicht fühlt es sich kalt, oder braucht nur mehr liebevolles Berühren und Gehaltenwerden. Es sind für sich allein schon so ungemein wichtige menschliche Grundbedürfnisse. Manchmal kann aber auch alles Füttern, Umbetten oder alle liebevolle Zuwendung, das Trösten oder Wiegen nichts gegen das Schreien ausrichten. Gerade dann müssen wir ernsthaft in Betracht ziehen, dass das Kind primalt, d.h. an seinen alten Schmerzen arbeitet.

Wenn es so schreit, sollte man auf keinen Fall versuchen, das Baby zu beruhigen, indem man es herumträgt, abzulenken versucht oder ihm irgendetwas in den Mund steckt, egal ob es nun die Brust, die Flasche oder ein Schnuller ist. Vor allem ist sehr wichtig, ihm in keiner Weise das Gefühl zu vermitteln, dass es weniger geliebt wird, weil es schreit. Im Gegenteil, man sollte das Baby dann in liebevollen Armen so lange und so tief schreien lassen, wie es selbst braucht, um zur eigenen Klärung zu kommen. Aletha Solter hat dazu auf ihrer "Aware Parenting"- Homepage ("Bewusstes Eltern-Sein") eine Menge zu sagen und auch Vivian Janov unterstützt diese Sicht als "Primärtherapeutisches Eltern-Sein".

Wenn ein Kind dann in das Alter, welches fälschlicherweise oft als "das schreckliche zweite Jahr" oder als die "Trotzphase" bezeichnet wird, dann ist es in Wirklichkeit der Zeitabschnitt, in dem es versucht, die eigenen frühen Schmerzen und den aktuellen Frust darüber, durch Rauslassen zu verarbeiten und zu heilen. Das Kind kann jetzt schon etwas sprechen, so dass es nicht mehr nur schreien muss, um mitzuteilen, wenn es etwas haben will und braucht. Sehr schlimm ist es, wenn ihm dann nicht zugehört und geantwortet wird oder es sogar zurückgewiesen wird. Spontanes Schreien und Wüten ist nun hauptsächlich das Mittel, mit seinen frühen oder auch den aktuellen Gefühlen von Schmerz und Zurückweisung umzugehen. Die typischen Wutausbrüche der Zweijährigen sind ein Versuch, all dies zu verarbeiten. Man muss sie darin liebevoll begleiten, und nicht bestrafen, oder gar damit bedrohen, ihnen "was zum Schreien zu geben", wie es so oft fälschlicherweise gemacht wird. Wenn man sich bewusst machen kann, dass in diesen Wutausbrüchen ihr "Innerer Heiler" am Werk ist, ist es leicht, sie wirklich darin zu unterstützen und ihnen zu helfen.

Ich bin überzeugt, dass alle alten unterdrückten Schmerzen dauernd versuchen, in uns wieder hochzukommen - um zu heilen. Das geschieht auf vielfältigste Art und Weise. Zum Beispiel in Träumen oder den Spielen und Phantasien der Kinder. So lange das erlaubt wird, läuft der Prozess der Selbstheilung ganz von selbst ab. Ich kann mich gut erinnern, wie ich als Sechsjährige eines Nachts in einem Hotelzimmer allein zurückgelassen wurde. Meine Mutter war auf einmal nicht mehr da. Ich fing an, Zeter und Mordio zu schreien, weil plötzlich, wie ich später erkennen konnte, wieder in mir hochkam, wie ich unmittelbar nach meiner Geburt von meiner Mutter getrennt wurde und auf der Säuglingsstation in einer Plastikschüssel liegen gelassen worden war - um darin, an Verlassenheit und mit gebrochenem Herzen zu sterben.

Tatsächlich war ich als Sechsjährige dabei, ein handfestes "Primal" zu durchleben! Aber mich hatte jemand gehört, der meine Mutter rief. Sie kam wütend ins Zimmer und schrie mich so schrecklich an, dass ich verstummte. Sie vermittelte mir das Gefühl, wie rücksichtslos ich sei, dass ich ihren Abend verdorben hätte, weil sie ja jetzt bei mir bleiben müsse. Auf diese Weise bekam ich nicht nur keine Unterstützung, sondern wurde erneut traumatisiert. Richtiger wäre gewesen, sie hätte mich entweder allein gelassen oder viel besser noch, sie hätte mich in den Arm genommen und beigestanden, tief in das Gefühl zu gehen, um es richtig zu erkunden. Obwohl ich erst sechs Jahre alt war, hatte hier mein "Innerer Heiler" die sich bietende Gelegenheit ergriffen, alleine zu primeln, was gerade in diesem Moment bearbeitet werden wollte. Ich hätte es sicherlich auch lösen können, wenn nicht meine ahnungslosen Eltern, die den Prozess ja nicht verstanden, mich daran gehindert hätten.

Dieser immer wiederkehrende Versuch, mit meinem Schmerz wieder in Kontakt zu kommen und ihn zu verarbeiten, wie ich es heute verstehe, war die ganze Zeit meines Lebens am Werk. Nur die Botschaft, die mir die Erwachsenen in meiner Umgebung gaben war, dass solches Schreien böse ist. Wenn ich nur irgendwelche Gefühle zeigte, besonders Traurigkeit oder Wut, wurde ich bestraft. Anstatt meinen "Inneren Heiler" zu fördern und zu unterstützen, war ich gezwungen, mehr und mehr diese Schmerzen in mich hineinzufressen, bis ich am Ende total verschlossen und von meinen Gefühlen abgetrennt war. Vermutlich hätte mir das entgegengesetzte Verhalten ermöglicht, schon als Kind auf natürliche und einfache Weise meine frühesten Schmerzen zu primeln. Wären meine Gefühle immer zugelassen und akzeptiert worden, hätte ich auch gelernt, spätere Traumatisierungen zeitnah zu verarbeiten. Das ist, was man "emotionale Hygiene" nennen kann.

Zurück zum Thema "Innerer Heiler". Auch in unserem erwachsenen Alter begleitet er uns ständig. Wie oft befinden wir uns in einer Situation, in der alter Schmerz ausgelöst wird oder wir fallen in alte, ungute Verhaltensmuster und Beziehungen. Kürzlich meinte mein Therapeut, dass wir oft nicht einfach nur festhängen oder krank sind, sondern dass unsere Seele einen Weg sucht, gerade uns dorthin zurückzuführen und uns genau dem auszusetzen, um diese verletzten Erfahrungen wiederzufinden und einen Heilungsprozess einzuleiten. Es ist dieser "Innere Heiler", der uns diese Richtung zur Ganzwerdung weist und zur Auflösung der alten Schmerzen hilft.

Auch unser Traumleben veranschaulicht das. In meinen Träumen tauchen oft Dinge und Zustände auf, die zur Bearbeitung anstehen, bevor mir bewusst wird, dass sie jetzt gerade dran sind. Manche meiner Träume sind lange, sich entwickelnde Fortsetzungsgeschichten, die mit der Zeit tiefer und tiefer gehen, um endlich den Schmerz an die Oberfläche zu bringen, der geheilt werden will. So erging es mir etwa im Zusammenhang von sadistischen Quälereien, deren Opfer ich als Kleinkind gewesen war. Jahrelang kamen sie mir in der Form nächtlicher Angstanfälle hoch, mit nach und nach immer tiefer gehenden Einsichten über das was damals wirklich vorgefallen war. Am Ende konnte ich dann, auch in einem Traum, die Verbindung zu der im Körper gespeicherten Erinnerung herstellen. Danach hatte ich etwa eine ganze Woche lang, lauter blaue Flecken am Körper. Danach brauchte ich das nicht mehr weiter in meinen Primals zu bearbeiten. Diese langsam sich vorbereitende Primal-Traumserie war mein Weg zur Heilung. Ich fand dabei heraus, dass der "Innere Heiler" sogar in uns arbeitet, wenn wir schlafen.

In letzter Zeit kann man oft hören, dass die "Verdrahtungen" im Gehirn schon sehr früh im Leben von den allerersten Erfahrungen festgelegt werden. Schon im Uterus, bei der Geburt, und auch in den ersten Jahren danach seien wir dem ausgesetzt. Es würden für ein Leben lang schon die Bahnen im Gehirn für immer festgelegt und sozusagen "eingraviert". Das hört sich für mich nicht positiv an, denn ich habe kürzlich im Gegensatz dazu ein Tonband mit einem Vortrag von France Janov gehört, in der sie neueste klinische Studien, unter anderem von Alan Schore, zitiert, die sich mit der Plastizität und der Formbarkeit unserer Gehirnstrukturen beschäftigen. Ihren Worten zufolge hat man dabei festgestellt, dass, wenn ein traumatisches Ereignis, selbst noch nach vielen Jahren - und zwar mit der ganzen Gefühlsintensität die es hatte, als es zuerst erfahren wurde - wiedererlebt wird, werden sich neue Gehirnbahnen öffnen und neu zu arbeiten beginnen. Auch hier sehe ich wie der Innere Heilungs-Prozess wirkt.

Über all dem komme ich zu folgendem Schluss: Das Vermögen des Körpers zur Selbstheilung ist nicht nur entscheidend für das Überleben des Einzelnen sondern auch für das der gesammten Gattung. Es macht sehr tiefen Sinn, dass unsere Psyche in der gleichen Weise selbstheilend arbeitet.
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EMaK www.emak.org ist eine Webseite für Erwachsene Misshandelt als Kinder. Über die Erfahrungen einer misshandelten Kindheit zu sprechen ist oftmals der erste Schritt auf einem langen Weg die unsichtbaren Wunden zu heilen.

-- Sieglinde W. Alexander



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